Was ist Realität: Geschichte des Brillenmachers
Manchmal genügt ein kleiner Blickwechsel und alles erscheint in anderem Licht. Dass wir die Welt nicht sehen, wie sie ist, sondern wie wir sind, wird uns selten so klar wie in Momenten, die uns den Spiegel vorhalten. In einem unscheinbaren Laden erfährt die Studentin Mira genau das und begreift plötzlich, was die Realität wirklich ausmacht.
Der Brillenmacher (Nachdenkgeschichte)
In einem kleinen Dorf am Fuße der Berge lag das unscheinbare Ladengeschäft des Brillenmachers Meister Alvaro. Die Leute raunten, er habe eine ganz besondere und einmalige Brille, die einem die Welt exakt so zeige, wie sie wirklich sei. Manch einer kam von sehr weit her, nur um sie einmal aufzusetzen und endlich die Wahrheit zu erfahren. Die Wahrheit darüber, wie die echte Realität aussieht, denn hier gingen die Meinungen bekanntermaßen ziemlich auseinander, je nachdem, wen man fragte. Ein Reisender beispielsweise bewunderte das kristallklare Wasser des Bachs, der sich durch die Landschaft schlängelte, während der Dorfälteste sich darüber beschwerte, wie verschmutzt das Wasser doch sei.
Die Studentin Mira half in den Semesterferien bei ihrem Großvater im Brillengeschäft aus und wunderte sich über diesen Trubel. Selbst in der großen Stadt, in der sie studierte, hatte sie bereits davon gehört. Jeden Tag sah sie nun mit eigenen Augen, wie Menschen den Laden betraten, voller Ehrfurcht über den schmalen Rahmen dieser magischen Brille strichen und sie schließlich mit bebenden Händen aufsetzten. Jeder von ihnen verließ das Geschäft daraufhin mit einem Ausdruck von Zufriedenheit auf dem Gesicht, als habe er gerade eine wichtige Bestätigung erhalten.
Ist die Realität für jeden gleich?
Ein junger Landwirt war der Erste an diesem Morgen. Mit schwungvollen Schritten kam er herein, nahm die Brille entgegen und setzte sie auf seine Nase. „Unglaublich!“, rief er. „Ich habe es gewusst, alles ist genauso, wie ich es schon immer gesehen habe.“ Er lächelte dem Brillenmacher und dessen Enkelin zu. „Der Rosenbusch vor der Tür blüht in den schönsten Farben, ich rieche ihn sogar, obwohl die Tür geschlossen ist. Und schaut, all die ordentlich sortierten Brillen in den Regalen. Nun weiß ich, dass alles, was ich sehe, die Wahrheit ist!“
Kurze Zeit später erschien eine Frau in der Tür. Auch sie setzte die Brille auf, seufzte tief und schüttelte den Kopf: „Ich habe es gewusst, die Welt ist trübe und grau.“ Sie sah sich um und ihr Blick blieb an dem in die Jahre gekommenen Teppich hängen, den verblichenen Vorhängen und einer leicht beschädigten Holzkante des Tresens. „Alles verfällt“, murmelte sie. „Früher war es anders. Früher war es besser.“ Das Aufstehen fiel ihr schwer. Sie sah Mira und Meister Alvaro kurz an und verschwand dann ohne ein weiteres Wort.
Was ist Realität? Dieselbe Brille, zwei Reaktionen!
Mira runzelte die Stirn. Dieselbe Brille, zwei völlig verschiedene Reaktionen. War es Magie? War das Glas auf wundersame Weise imstande, sich den Menschen anzupassen? Sie nahm das Gestell in die Hand. Es war leicht und schlicht. Sie zögerte und sah zu ihrem Großvater. Als er ihr aufmunternd zunickte, setzte sie sie auf und erschrak fast über die Banalität: nichts verändert sich, alles blieb, wie es war.
„Die Brille verändert nichts, Mira“, sagte Alvaro leise. „Sie zeigt den Menschen nur, was sie ohnehin schon sehen. Der Frohe findet Licht, der Müde findet Schatten. Jeder hält es für die Wahrheit und doch ist es nur die eigene Sicht auf die Realität.“ Mira schaute nochmals durch die Gläser. Sie sah den Rosenbusch vor der Tür und die ordentlich aufgereihten Brillen in den Regalen ebenso wie den in die Jahre gekommenen Teppich, die fehlende Ecke der Theke und die etwas verblichenen Vorhänge. Sie nahm das Gestell ab und verstand: Nicht die Brille war der Filter, sondern die Menschen selbst. So wie sie in die Welt sehen, blickt die Welt zu ihnen zurück.

Meister Alvaro steht vor seinem Brillengeschäft und begrüßt seine Nichte Mira. Foto: Freepik KI
Meine Gedanken über Wahrnehmung und Realität
Wir alle tragen unser Leben lang eine unsichtbare Brille, durch die wir die Welt und die vermeintliche Realität betrachten. Doch das bemerken wir selten, weil wir überzeugt sind, die Dinge so zu sehen, „wie sie eben sind“. Doch in Wahrheit sehen wir sie, wie WIR sind – gefärbt durch Erfahrungen, Stimmungen, Überzeugungen. Das erklärt auch, warum derselbe Tag für den einen voller Chancen steckt und für den anderen einfach nur eine Last ist wie in der Geschichte der Nachbarinnen. Die Bestätigung „unserer Realität“ holen wir uns unbewusst durch das Lesen solcher Medien, die unsere Sichtweise teilen. Unser Fokus richtet sich auf die Dinge, die sie beweisen, und der Algorithmus im Internet und in den sozialen Medien sorgt dafür, dass wir mehr von dem sehen, woran wir glauben, und weniger von allem anderen. Das lässt den falschen Eindruck entstehen, es gäbe davon weniger. Bei den Menschen, die vom Gegenteil überzeugt sind, ist es genau andersherum. Sie sehen mehr von „ihren Wahrheiten“ und weniger von „unseren“.
Das Schreiben dieser Geschichte erinnert auch mich selbst wieder einmal daran, kurz innezuhalten und mich insbesondere in schweren Zeiten zu fragen: Welche Brille habe ich gerade auf, dass mich diese Situation so mitnimmt? Was triggert mich und was kann ich jetzt dagegen tun? Diese kleine Reflexion kann genügen, um die Sichtweise zu wechseln und einen ersten Schritt aus dem Schatten hinaus zu machen.
Tarot-Reflexion
Diese Nachdenkgeschichte vom Brillenmacher zum Thema Wahrnehmung und der Frage „Was ist Realität?“ trägt die Energie der Tarotkarte „Der Mond“ in sich. Er steht für Spiegelungen, Illusionen und die Macht der Wahrnehmung. Unter seinem Licht erscheinen Dinge geheimnisvoll, manchmal verlockend, manchmal bedrohlich und doch ist es immer dasselbe Licht, das wir nur unterschiedlich deuten. So wie die Brille im Laden nichts anderes ist als klares Glas, offenbart auch der Mond, dass unsere Ängste, Hoffnungen und Bilder in uns selbst entstehen. Er lädt uns ein, diese Projektionen als solche zu erkennen und uns zu fragen: Ist das wirklich die Realität oder nur die Brille, durch die ich gerade schaue?

Die Geschichte wie auch die Tarotkarte selbst laden dich jetzt dazu ein, in dich hineinzuhorchen: Welche unsichtbare Brille trage ich gerade und was würde ich sehen, wenn ich für einen Moment die eines Menschen aufsetzen würde, dessen Meinung ich schätze?
Du möchtest mehr Klarheit in deinem Leben und besser verstehen, was gerade bei dir los ist? Dann schau doch mal bei meinen Tarot-Impulsen (coming soon) vorbei.
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